Reihe CineGraph Buch


Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion):
Richard Oswald. Regisseur und Produzent

LUMPEN UND SEIDE (1924)

Uta Berg-Ganschow


Ein ganz und gar durchschnittlicher Film, gedreht für den alltäglichen Kinobedarf. Alltagsstoff, der vergessen ist. Ein routinierter Regisseur, routinierte Schauspieler, die Fabel ein nichtiger Anlaß. Zu sehen ist, was dabei dennoch Spaß gemacht hat, Kabinettstückchen der Schauspieler, der Ausstatter.

Hochherrschaftlich amüsiert man sich am besten unter Niveau, in miesen Etablissements, im Bumslokal. Madame betreibt das Spiel: Sie holt sich und ihrem Gatten als »Allumeuse« für die verlöschende eheliche Liebe ein süßes Mädel von der Tanzfläche ins Heim. Der Gatte findet Gefallen am Zündeln, das Mädel durchschaut verletzt das Spiel, die Ehe scheint aufgefrischt, und der kleine Bruder des Hausherrn steht am Ende ein für den Traum vom glücklichen Aufstieg. Weitere Rollen, eigentlich Hauptrollen: Das Paar hat einen Hausdrachen, das Mädel einen Verlobten, der vermutlich eher ein Freund des Vaters ist; der spielt als Schmarotzer der Geschichte ausdrücklich mit den Niveauunterschieden.

Lumpen und Seide: Reinhold Schünzel, Maly Delschaft

Die Haushälterin, Maly Delschaft, kommandiert, verteidigt ihr reiches Terrain unerbittlich gegen schmuddelige Übergriffe, aber selbst Überläuferin, darf sie gelegentlich auch aus der Rolle ins andere Milieu fallen und sich unverändert dominant aber beschwipst amüsieren, sogar über ihre hergelaufene Herrschaft. Reinhold Schünzel spielt Max, den Verlobten des begehrten, armen Mädchens, dreist, verschlagen, aber dann wieder unvermittelt traurig verliebt. Er schmatzt Handküsse, tanzt, sich ungestüm, schwindelerregend drehend, verschlingt mit Augen und Mund gleichzeitig so schnell so viel und spreizt dabei den kleinen Finger ab. Schünzels Mittel ist die Übertreibung, nie droht in seiner Komik Anarchie, er parodiert gesellschaftliche Regeln bloß. Den Herrschaftsblick spielt er immer mit, und diese paradoxe Doppelperspektive muß sein Publikum interessiert haben. Genau wird sein Spiel immer, wenn es um Machtstrukturen geht. Die Zwickmühle, daß Lust am Schmarotzen ohne Ehrverlust nicht zu haben ist, zeigt er, wenn er schwankt, ob er mit den festgenommenen Kumpeln auf dem Polizeiwagen oder in der herrschaftlichen Kutsche fahren soll, wenn er den Diener, der ihn nicht vorlassen will, mit Herablassung straft, wenn er Havannas klaut, die Anstandszigarre aber liegen läßt.

Richard Oswald interessiert sich gleichmäßig für Lumpenball und Seidendraperien, für das derbe Vergnügen wie für die pubertär anmutenden Tändeleien der Reichen. Die Regie springt behende zwischen beiden Schauplätzen hin und her, inszeniert oft frontale Auftritte, entwickelt Interesse an Ausstattungsdetails besonders der Requisiten des Reichtums, identifiziert sich mit den im jeweiligen Milieu Deplacierten. Pointen im Spiel der Darsteller werden nicht durch Kamera oder Montage gesetzt. Oswald inszeniert, indem er den Stoff zusammen mit seinen Schauspielern illustriert, er mag sie kräftig, deutlich, baut nicht so sehr auf Überraschungs- als auf Wiedererkennungseffekte bei seinem Publikum.

Der Film scheint beispielhaft für Durchschnittlichkeit: »Kurz, man amüsiert sich ohne Anstrengung, man sieht das, wie man Bilder eines guten Magazins durchblättert, man ist nachher gut aufgelegt und hat eine angenehme Stunde verbracht. Und das ist ja auch der Zweck der Übung, nicht wahr?« (Film-Kurier, 10.1.1925). Diese Beiläufigkeit des Zuschauens und Beschreibens ist dahin, aus 65 Jahren Blickdistanz wird Durchschnittliches unkenntlich. Schon die Anstrengung des Ausgrabens isoliert die Massenware als Einzelstück, die Unterhaltungsware wird rücksichtsvoll übersehen oder erscheint preziös überglänzt.


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