Artikel aus CINEPUR Nr. 96 (November/Dezember 2014)
zum Schwerpunkt »Aktueller Deutscher Film«


Ondřej Pavlík

Eine hoffnungsvolle Erwartung des künstlerischen Realismus.
Angela Schanelec


Es sind bereits unzählige Artikel zur Beschreibung von Angela Schanelecs Stil, eine der wichtigsten Vertreterinnen der Berliner Schule, erschienen. In den sich mit ihrer Arbeit befassenden Artikeln stehen jedoch in der Regel die Art der Komposition bzw. die Funktion des Drehortes im Mittelpunkt. Anhand der Filme MARSEILLE, NACHMITTAG und ORLY sollen die Werke von Angela Schanelec in einem breiteren Kontext betrachtet werden, der sonst bis dato vernachlässigt wurde. Schanelec wird zwar als moderne Filmmacherin der Gegenwart beschrieben, aber sie besteht auf bestimmte Grundprinzipien des künstlerischen Films zu denen der Realismus und die Selbstreflexion gehören. Das macht sie zu einer recht traditionellen Filmmacherin, die einen engen Bezug zu den Regisseuren der Moderne der 1960er Jahre hat. 

Über die Arbeit von Angela Schanelec zu berichten birgt einige Gefahren in sich. In Interviews stellt sie sich als scharfsinnige Intellektuelle dar. Dabei schafft sie es von sich aus wichtige Zeichen in ihren Bildern zu reflektieren. Im Video-Interview für die Zeitschrift Cine-Fils spricht Schanelec über Drehorte und deren Einfluss auf das Endprodukt – den Film.

1. Sie erwähnt unter anderem, dass die konkreten Orte, wie zum Beispiel der Hafen von Marseille oder der Flughafen Orly für sie oft eine Schlüsselrolle für ihre Inspirationen sind (in beiden Fällen wurden die Filme von der Regisseurin auch nach den Orten benannt). Gleichzeitig fügt sie jedoch hinzu, dass sie unzufrieden damit ist, wenn die Umgebung lediglich ihre Darsteller charakterisiert und sie somit nur eine Erweiterung ihres Innenlebens ist. Es droht dann jedem, der in der Analyse der Werke von Angela Schanelec die Wichtigkeit von Raum betont, im besseren Fall nichts neues entdeckt zu haben, oder im schlimmeren Fall wie eine heimliche Kopie der leicht nachvollziehbaren Gedanken der Autorin zu wirken.

Zum Glück gibt es jedoch immer noch genug Platz für Gedanken und Theorien. Die Regisseurin sagte in einem Interview für das tschechische Kulturportal Kulturissimo, dass sie ihren Schaffensprozess selbst vollständig intuitiv wahrnehmen würde.

2. In ihrer Filmographie ist jedoch ein unverwechselbarer roter Faden zu finden. Deshalb sollte hier auch die Frage gestellt werden, wie der Filmstil von Angela Schanelec beschrieben werden kann? Welche typischen Merkmale sind aufzufinden? Dieser Text soll sich mit eben diesen Fragen beschäftigen. Aus meiner Sicht wird die Form im Vordergrund stehen, was nicht heißt, dass die einzelnen Bedeutungen vernachlässigt werden sollten. Ihr Einfluss auf den Stil der Regisseurin ist eindeutig und stimmt oft mit den gewählten formalen Mitteln überein.  

Hartnäckige Minimalistin


Die Artikel über die Berliner Schule, einer losen Gruppe von Regisseuren, die sich von der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin kennen, beschäftigen sich oft mit Fragen zum Thema Realismus. Der Zeitschrift Senses of Cinema zufolge ließen sich die Gründungsmitglieder dieser Gruppierung von der realistischen Poetik der 1970er Jahre inspirieren. Dazu gehörte vor allem die zweite Generation der französischen Nouvelle Vague, demnach die Regisseure Maurice Piallati, Philipp Garrell und andere. Die Gründer der Berliner Schule sind die Regisseure Christian Petzold, Thomas Arslan und Angela Schanelec.

3. Mein Versuch besteht jedoch darin zu zeigen, dass zumindest bei den Aufnahmen von Angela Schanelec von einem starken Bezug zu allgemeineren Prinzipien der künstlerischen Kinematographie die Rede ist, die bereits von einigen modernen Regisseuren aus den sechziger Jahren umgesetzt/verkörpert wurde. An diesem Punkt gehe ich vor allem von der Definition des künstlerischen narrativen Modus aus, dessen Grundzüge David Bordwell zufolge eine Verbindung zwischen dem objektiven (oder auch subjektiven) Realismus und die Selbstreflexion ein Eingriff der Autoren sind.

4. Gerade dieser Schritt/Zug ist für das Werk von Angela Schanelec ausschlaggebend.

Eine auf diese Weise formulierte These kann sehr banal klingen. Zweifelsohne ist Schanelec eine künstlerische Filmmacherin, dafür ist eine Belehrung von Bordwell natürlich überflüssig. Davon mal abgesehen, dass diese wirklich sehr beschränkt formuliert ist, wobei eine Vielzahl anderer Aufnahmen und Schöpfer mit eingebunden wurden. Was ist also an dieser Behauptung so bewundernswert? An dieser Stelle sollte der Kontext mit einbezogen werden. Angela Schanelec hat das Image eine der führenden Minimalisten zu sein und dabei stellt sie als Regisseurin ein modernes Deutschland oder gar Europa vor. Allein ihre Zugehörigkeit zur Berliner Schule, einer alternativen Bezeichnung für den neuen deutschen Film ist ein Zeichen dafür, wie aktuell, neu schaffend und progressiv sie ist. In diesem Zusammengang wird ebenfalls deutlich, dass Schanelec zwar auf gewisse Weise wirklich zeitgenössisch ist, sie sich aber mit der bereits erwähnten Kombination von Realismus und Selbstreflexion besonders traditionell ausdrückt. Nicht nur innerhalb der Berliner Schule, sondern in der ganzen deutschen Filmszene wäre die Suche nach einem anderen, sich auf gleiche Weise an die künstlerischen Werte haltenden Filmmacher überflüssig.

In diesem Fall nehme ich das gleiche Realitätsverständnis ein, wie es auch Bordwell tut. Mit anderen Worten verstehe ich es hier als eine bestimmte Art des formalen Konstrukts, dessen Eindruck von Authentizität eine überspitzte Leugnung klassischer Konventionen hervorruft. Deshalb wird der Zuschauer durch die Aufnahmen von Angela Schanelec schrittweise und besonders unauffällig in das Geschehen eingeführt. Nicht nur die Figuren, aber auch ihre Beziehungen untereinander werden in den Filmen nur angedeutet und bleiben mehrdeutig. Das durch die unvermittelte Beobachtung der Umstände entstandene Gefühl wird dazu noch durch einen Stil unterstrichen, der mit seinen langen, oft statischen, Aufnahmen entweder nur einen kleinen Auszug aus einer Szene zugänglich macht oder er versucht eben mehrere Geschichten gleichzeitig als großes Ganzes darzustellen. Beide Techniken erfordern eine genauere Form der Beobachtung, damit wird für den aufmerksamen Zuschauer das Fehlen von gewöhnlichem Geschehen in Filmen ersetzt. Der stille Eintritt in die allmählich fließenden Leben ergänzt jedoch die scheinbar gegensätzlichen Strömungen. Diese weisen auf die Fiktion als ein Konstrukt hin und thematisieren dabei die Vorstellung der Realität. Konkret gehören dazu mehr oder minder versteckte Mittel aus dem Theater oder Aufnahmen von fotografierenden Personen, die mithilfe ihres Objektivs die Umgebung auffangen. Ähnlich wird dies auch durch plötzliche narrative Auslassungen erzielt. Beide Ebenen gehen jedoch nahtlos ineinander über.

Theaterspiele auf der Leinwand

Der Film NACHMITTAG (2007) wird mit einer über zwei Minuten langen Aufnahme einer Theaterbühne eingeleitet. Auf der Bühne scheint gerade eine Probe eines nicht weiter erläuterten Theaterstücks stattzufinden. Auf der rechten Seite der Bühne liegt ein Hund herum und auf seiner Linken probiert eine Schauspielerin verschiedene Requisiten aus. Später stellt sich heraus, dass die Schauspielerin von Angela Schanelec selbst verkörpert wird. Schanelec hat früher als Bühnendarstellerin gearbeitet und deshalb stärkt sie mit der Rolle von Irina auch ihre Präsenz als Autorin des Films und gibt diesem dazu noch eine persönliche Note. Der Film NACHMITTAG beginnt damit, dass sich der Vorhang öffnet, was darauf hinweist, dass es sich hier um eine freie Bearbeitung eines Theaterstücks handelt. Konkret ist damit das Stück »Die Möwe« von Tschechow gemeint. Im weiteren Verlauf des Films spielt die Bühne keine Rolle mehr. Das Geschehen wird in ein Haus verlagert, das sich in einem Vorort befindet. Dort trifft Irina auf ihre Familie und Freunde. Es ist bezeichnend, dass nach einem Wechsel in eine intimere Umgebung kaum noch lange und ganzheitliche Aufnahmen zu finden sind. Das Bild wird plötzlich von unvollständigen Ausschnitten von Räumen oder Details verschiedener Gesichter dominiert. Dabei müssen viele Informationen von Dialogen und Geräuschen abgeleitet werden, die außerhalb des aufgenommenen Bildes entstehen.

Ein komplizierteres Spiel mit dem Theater wird in dem Film MARSEILLE (2004) gespielt. Ohne vorgewarnt zu werden, befinden wir uns nach fast einer Stunde plötzlich auf der Bühne. Wir treten mitten in eine Probe ein, bei der die Kamera nicht die ganze Bühne im Blickfeld hat, sondern lediglich ihren Rand, wo wir einen als Portier verkleideten Mann sehen, der sich an eine Wand lehnt. Dass wir uns nicht in einer Hotellobby sondern im Theater befinden kann davon abgeleitet werden, dass Requisiten über die Bühne getragen werden oder weil viel stilisierter gespielt wird. Definitiv wird unsere Hypothese jedoch mit der Wahl eines neuen Winkels bestätigt, durch den die restliche Bühne sichtbar wird. Erst nach einigen Minuten, in denen gesprochen wird, kommt eine Figur auf die Bühne, die zuvor in einer kurzen Sequenz als ängstliche Mutter bei der Suche ihres verlorenen Drehbuchs zu sehen war. Hier erfährt der Zuschauer plötzlich, dass Hanna zwar als Autorin hoch hinaus will, doch beim Theater bekommt sie nur Nebenrollen.

MARSEILLE kann als vielseitigster Film von Angela Schanelec betrachtet werden. Zumindest hinsichtlich der dünnen Grenze zwischen Realität und Fiktion. In späteren Szenen beobachtet der Zuschauer Hanna in ihrem gewohnten Umfeld – mit ihrer Freundin Sophie beim Pool oder zu Hause bei einem Gespräch mit ihrem Mann Ivan. Es wirkt jedoch so, als ob sie in ihrem Privatleben immer nur etwas vorspielen würde. Der Zuschauer verspürt ungelöste Konflikte in der Ehe, wobei sich die Charaktere verstellen, vielleicht um ihre Ehe zu retten.

Auch hier teilt Schanelec dem Zuschauer nichts direkt mit, sondern wählt Umwege mit vielen mehrdeutigen Gesten und Ausdrücken. Die Schauspielerei ist also der einzige Weg, der es uns ermöglicht zu entscheiden, ob die Ereignisse wahr sind. Am Ende von MARSEILLE sagt eine Darstellerin bei der Polizei über einen Überfall aus. Es war eine heftige Situation, die der Zuschauer jedoch nicht sieht. Die Regisseurin gibt zwar an, dass sie sich bemüht hat, die Szene so authentisch wie möglich darzustellen, aber das Ergebnis wird hier bezweifelt. (Eine Überfallszene kannte sie auch nur aus Filmen und hat so etwas selbst nie erlebt) Letztendlich führt es dazu, dies in Frage zu stellen. Die Figur beschreibt erst affektiert, fast schon roboterartig ihr traumatisches Erlebnis und erst dann bricht sie zusammen und beginnt laut zu schluchzen. Das, was als überzeugende Verkörperung einer verspäteten emotionalen Reaktion verstanden werden kann, wirkt gleichzeitig wie eine perfekt gemeisterte, vorher eingeübte, schauspielerische Leistung.

Fragen zum Thema Schauspielerei und ihr Übergreifen auf das Alltägliche werden zudem in MARSEILLE Teil einer höheren thematischen Ebene, die sich auf unterschiedliche Arten des Realitätsbezugs bezieht. Dieser sehr allgemein klingende Rahmen von Bildern zeigt durch das Fotografieren, dem sich die Figuren unterschiedlich stellen, verschiedene Ansätze.

Wir sehen Ivan in einer weitläufigen Fabrik, in der er Fotos von den Arbeitern macht. Er wählt einen professionellen Ansatz der Fotografie und spricht auf nüchterne Weise mit den Arbeitern, ohne die geringste Emotion zu zeigen. Die Frauen fangen zwar mit einem vorsichtigen Lächeln an zu erzählen, aber sie schaffen es nicht, die angespannte Atmosphäre zu durchbrechen. Das passiert schon deshalb, weil sie sehr künstlich Teil des Bildes werden sollten. Zu Beginn des Filmes beobachten wir Sophie, die einen Ausflug nach Marseille macht. Vor allem am Anfang, als sie einen sympathischen Automechaniker kennenlernt, durch die Hafenstadt spaziert und eine Kamera in der Hand hält. Der Zuschauer erfährt erst später, was für Fotos sie gemacht hat. Hier provoziert der Film etwas und verzichtet auf die klassische Konvention einen bestimmten Blickwinkel zu wählen, der sonst in solchen Situationen typisch wäre. Der Zuschauer darf die Beobachterin lediglich bei den langen Einstellungen, in denen es zu keiner dramatischen Handlung kommt, beobachten. Damit ermöglicht das Bild dem Zuschauer zwei gegensätzliche Ansätze zu vergleichen, die bei einem genaueren Hinschauen vielfältige Lebenswege veranschaulichen. Im ersten Fall wird eine Aufnahme von verschiedenen beruflichen Verpflichtungen gezeigt, im zweiten Fall wird die Welt um sie herum erforscht. Beide Prinzipien werden in MARSEILLE auf seine Art an den Leser vermittelt. Dies geschieht entweder durch die Rahmenhandlung oder wieder durch die Schauspielerei. Noch eindringlicher ist ihr Ziel, daraus eine direkte Perzeption zu schaffen.

Der dokumentarischen Authentizität entgegenkommen


Einen wiederum etwas unterschiedlichen Ansatz wählte Angela Schanelec in ihrem bis dato letzten Spielfim ORLY (2010). Die Aufnahme spielt eigentlich fast die ganze Zeit in einem überfüllten Flughafenterminal, was – übrigens ein neues Phänomen bei Schanelec – dem Film eine dokumentarische Dimension gibt. Die Figuren der Protagonisten gehen manchmal in dem Wirrwarr verloren oder sind zum Teil versteckt. Gleichzeitig ist dies der stärkste Episodenfilm von Angela Schanelec, in dem es unmöglich ist einen Protagonisten ununterbrochen zu beobachten oder eine zusammenhängende Handlung nachzuvollziehen. Das wird noch durch den Eindruck gestärkt, dass die Situation ungeplant aufgenommen wurde. Die Erzählweise ist natürlich ein genau ausgewähltes Mosaik, die durch sich wiederholende Momente unterstützt wird (z.B. durch die Angestellte am Schalter). Gleichzeitig werden verschiedene, voneinander unabhängige, menschliche Interaktionen beobachtet, deren Gemeinsamkeit nicht nur das gezwungene Warten, sondern auch etwas Universelleres ist.
   
Nicht einmal die Authentizität des Filmes ORLY entflieht den unerwarteten Einfällen von außen. Für den Zuschauer wirkt es vielleicht überraschend, dass z.B. plötzlich ein nicht diegetisches Musikmotiv integriert wird – melancholische Lieder –, die die sonst unauffällig stille Szene bereichern und dadurch ein stark emotionales Erlebnis schaffen.

Die Evakuierung des Flughafenterminals wirkt wie ein Eingriff aus einer anderen Dimension, der von einem Voice-Over begleitet wird, in dem eine Begegnung mit Gott erwähnt wird. Es sind gerade diese sparsamen, aber zugleich sehr wirksamen Mittel, die über einer distanzierten Studie menschlicher Ansammlungen hinaus, Fragen zur Sehnsucht, Enttäuschung und Verluste stellt.

Das Problem der Erwartungen auf das Leben und seine (Nicht-)Erfüllung begleitet das ganze Werk von Angela Schanelec. Dies wird auch zum einzigen eindeutigen Thema der Regisseurin. Es ist bewundernswert, dass Schanelec wider aller Erwartungen sich nicht darauf verlässt, alles genau zu strukturieren und den modernen und leeren Realismus darzustellen. Vielmehr nutzt sie mit Gefühl die Mittel, die auf die Konstruktion des Vorgeführte hinweisen. Faszinierend an ihrem Werk ist auch, dass sie diese zwei anscheinend gegensätzliche Strategien miteinander verbinden kann. Dabei ist es egal, ob es sich um ihre durch die beeinflussende, aber unauffällige Arbeit mit der Schauspielerei handelt und mit ihren nonverbalen Aspekten oder um das außerordentliche Ziel einen strukturierten Film zu schaffen. In diesem Zusammenhang sollte vielleicht noch erwähnt werden, dass Angela Schanelecs Aufnahmen bei der Entstehung zwar aktuell sind, aber ihre Zeitlosigkeit zur Einhaltung der klassischen Regeln der künstlerischen Kinematographie beitragen.

Anmerkungen

1/ Siehe https://www.youtube.com/watch?v=GkUA6jG2eho.
2/ Siehe http://www.kulturissimo.cz/index.php?angela-schanelec-rozhovor&detail=1534.
3/ Siehe http://sensesofcinema.com/2010/feature-articles/the-berlin-school-%E2%80%93-a-collage-2/.
4/ Siehe Bordwell, David (1985): Narration in the Fiction Film. Madison: University of Wisconsin Press, s. 205–213.


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