FilmMaterialien 5 - Phil Jutzi

Hunger in Waldenburg

Ein Film des Volks-Film-Verbandes

Von Willi Bredel

in: Hamburger Volkszeitung, 4.4.1929


In der Sonntagsnummer des »Hamburger Echo« stehen im Leitartikel »Auferstehung« folgende Sätze: »Die Arbeiterklasse ist sich selbst Bürge ihrer Befreiung. Stellt euch deren Los in der Zeit vor achtzig oder neunzig Jahren vor, wie es geschildert ist im ersten Band von Marx' ›Kapital‹, oder in Engel's ›Lage der arbeitenden Klassen‹, oder in Urkunden vom Langenbielauer Weberaufstand: da war düstere Nacht, in dieses Grab fiel kein Lichtstrahl!«

Dieser Sonntagsnummer lag das illustrierte Blatt der sozialdemokratischen Presse »Volk und Zeit« bei, in dem acht Bilder aus dem neuen Film HUNGER IN WALDENBURG und folgende Sätze stehen: »Der Schriftsteller Leo Lania hat im Waldenburger Kohlenrevier in Schlesien einen Film gedreht, der ein ergreifendes soziales Dokument unserer Zeit ist. Der Film, der ohne Schauspieler gedreht wurde, zeigt eindringlich die bittere Not, die an der Schwelle des Hungers steht in diesem Distrikt, der an der Grenze des Reiches weitab vom Blick der Öffentlichkeit ist. Die Bilder dieses Films werden den Rechtsparteien beweisen, daß Abstriche vom Sozialetat heute Mord an der Arbeiterschaft und der heranwachsenden Generation ist.«

Wir wollen hier erst einmal feststellen, daß der Schriftsteller Leo Lania diesen Film im Auftrage des Volks-Film-Verbandes gedreht hat. Eine Tatsache, die das »Hamburger Echo« wider besseres Wissen hartnäckig verschweigt.

Bevor wir uns aber mit der Doppelzüngigkeit des »Hamburger Echos« auseinandersetzen, einige Sätze aus einem Artikel Leo Lanias über den Film, die wir dem »Magazin für Alle« entnehmen. Leo Lania schreibt da unter anderem:

»Und wer da glaubt, daß nach dem furchtbaren Aderlaß, den zehn Jahre Weltkrieg unserer Wirtschaftsordnung gegeben haben, der Kapitalismus zahmer, sittsamer geworden sei, der - nun, der fahre in das deutsche Hungergebiet nach nach Niederschlesien...

Damals, in den Zeiten des Frühkapitalismus, wand sich dieses fruchtbare Land in schrecklicher Pein. Die Unternehmer, siegesgewiß und selbstherrlich, beuteten die Arbeitssklaven in grausamster Weise aus - die Maschine fraß die Handarbeiter. Was sich heute fast auf derselben Stelle abspielt, ist in gewissem Sinne noch tragischer und trostloser.

Damals hatten die armen Weber, die hungernden Glasbläser immerhin einen Ausweg: die Fabrik. Ein Beruf starb ab, ein anderer kam auf. Wie die Droschkenkutscher der Eisenbahn weichen mußten, so die Handarbeiter der Maschine, aber der junge Kapitalismus schuf neue Arbeitsstätten, neue Verdienstmöglichkeiten. Nach verhältnimäßig kurzer Zeit war für die hungernden Weber neue Arbeit gefunden. Heute ist der Kapitalismus altersschwach und verbraucht. Er verurteilt nicht nur die Berufe, die betreffenden Industrien zum Tode, auch die Menschen sind dem Untergang geweiht. Für die hungernden Bergarbeiter des niederschlesischen Kohlenreviers gibt es keinen Ausweg. Wohin mit ihnen? In andere Reviere? Die leiden selbst unter Arbeitslosigkeit. In andere Berufe? Es gibt keine einzige Branche, die sie aufnehmen könnte. So sitzen hier in den Dörfern und Städten des Reviers Zehntausende von Proleten, lassen sich Monat für Monat die Löhne kürzen, die Arbeitszeit verlängern. - Ihr wollt nicht? Dann fliegt ihr eben auf die Straße! Und so ist es glücklich so weit gekommen, daß hier im Herzen Deutschlands ein Hungergebiet sich ausbreitet.«

In dem Leitartikel des »Hamburger Echo« wird das Elend der Arbeiterschaft aus der Zeit der Weberaufstände als der »düsteren Vergangenheit angehörig« dargestellt. In der Illustrierten Beilage derselben Nummer wird die bittere Not der Arbeiter, die an der »Schwelle des Hungers« stehen, in lebens- und wahrheitsgetreuen Bildern aus dem Film Hunger in Waldenburg gezeigt. Und der Schöpfer des Films schreibt, daß das heutige Elend der Arbeiterschaft das Elend und die Not der Weber aus den Zeiten des Frühkapitalismus weit übersteigt.

Den Organen der Sozialdemokratie ist jedes Mittel recht, wenn sie ihre elende Rolle, die sie in der Arbeiterschaft spielen, vertuschen oder verschleiern können. So offen, wie sie in der praktischen Politik immer und stets die Interessen der Bourgeoisie vertreten haben und für die Erhaltung der kapitalistischen Ruhe und Ordnung sorgen, - so doppelzüngig, demagogisch ist ihre Agitationsarbeit in der breiten Öffentlichkeit. Das Unangenehme für sie wird einfach den Anhängern verschwiegen oder umgebogen. Freilich haben wir nicht die deprimierende, fatalistische Einstellung, die aus folgenden Schlußsätzen des Artikels Leo Lanias herausklingt:

»Die Zustände im Grubenrevier Niederschlesiens haben nicht lokale und nicht historische Bedeutung, sondern eine prinzipielle und höchst aktuelle. Diese Zustände sind symptomatisch für das Wesen unserer Wirtschaftsordnung, für den kapitalistischen Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft. Heute ist es Niederschlesien - morgen das Ruhrrevier, es ist keine Rettung und keine Grenze abzusehen.«

Der Film Hunger in Waldenburg, der uns das tatsächliche entsetzliche Elend der Arbeiter in Niederschlesien im Film wiedergibt, ist nicht nur eine furchtbare Anklage gegen den Kapitalismus und seine Profit- und Ausbeuterwirtschaft - er ist vor allem eine vernichtende Anklage gegen die Sozialdemokratie, die diesen mörderischen Kapitalismus gegen die revolutionäre Arbeiterschaft erhalten, geschützt und wieder aufgebaut hat, und die noch heute das Bollwerk der kapitalistischen Wirtschaft gegenüber der Arbeiterklasse ist, er ist aber auch ein Alarmsignal in letzter Stunde für die deutsche Arbeiterklasse, sich aufzuraffen und in der Beseitigung der kapitalistischen Profitwirtschaft sich selbst zu retten.
Hunger in Waldenburg - im elften Jahre der Republik - nach elf Jahren »Realpolitik« der Sozialdemokratie - nach über einem Jahrzehnt »Sozialfürsorge«.

Hunger in Waldenburg - Hunger in Deutschland, das ist das Fazit der bürgerlichen Demokratie, der Wirtschaftsdemokratie, der Niederlagenstrategie, der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie und des Verrats der Spitzen der Sozialdemokratie an allen Prinzipien und Forderungen der Arbeiterklasse.

Die Minister der Sozialdemokratie bewilligten Millionen und aber Millionen für Rüstungen, Reichswehr, Panzerkreuzer, Polizei und Justiz und Subventionen für Großindustrielle und erklären den hungernden Arbeitern und den in Siechtum, Hunger und Elend aufwachsenden Arbeiterkindern: »Der Staat ist arm!«

Und täglich und stündlich setzt die Sozialdemokratie ihre schuftige Politik fort, und täglich und stündlich wächst der Übermut der herrschenden Klasse. Die politische Rolle der Sozialdemokratie ist die des Polizeibüttels zur Erhaltung dieser Friedhofs»ruhe« für das Proletariat und Profit»ordnung« für die Bourgeoisie.

Eins der acht Bilder aus dem Hungerfilm in »Volk und Zeit« zeigt die Wiege eines Proletarierkindes. Diese Wiege ist eine Margarinekiste, und in der Unterzeile ist die sozialdemokratische Redaktion von »Volk und Zeit« ganz erschüttert darüber. Eine elende, nicht zu überbietende Heuchelei! Denn mit zynischem Hohn hat auf dem letzten Parteitag der Sozialdemokratie in Kiel die Sozialdemokratin Frl. Dr. Hertha Krauß aus Köln den Arbeiterfrauen empfohlen, wenn sie keine Kinderbettchen kaufen können, sollen sie doch praktisch sein und Margarinekisten nehmen, die jeder für einige Pfennige beim Delikatessenhändler kaufen könne.

Auf Betrug, Heuchelei, Verrat und Gemeinheit hat die Sozialdemokratie ihre Politik aufgebaut. Die deutsche Arbeiterschaft wird in Hunger, Not und Elend umkommen, in die Barbarei versinken, wenn sie nicht den mörderischen Moloch Kapital und die bürgerliche Gesellschaft samt allen mit dieser Gesellschaftsordnung verquickten und versippten Schichten, insbesondere der reformistischen Bürokratie, in den Abgrund stürzt. Erst wenn die sterben, wird das Proletariat leben.

Hunger in Waldenburg - Hunger in Deutschland! Dieser Film ist ein Verdienst des Volks-Film-Verbandes und eine Warnung und ein letzter Apell an die deutsche Arbeiterschaft.


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