3 x Nebenzahl. Materialien zum 14. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 15. - 18. November 2001.

Biografisches


Aus den Erinnerungen von Leon Nebenzahl

Ein wenig Familiengeschichte

(...) Mein Vater Ferdinand entstammte einer jüdischen Familie, die ebenso kinderreich und arm war wie die meiner Mutter und in der Gegend von Krakau (damals Österreich-Ungarn) lebte. Mein Großvater glaubte, seinen Söhnen einen Weg aus den ärmlichen Verhältnissen zu bahnen, wenn er sie in die "kaufmännische Lehre" nach Deutschland schickte. So kam mein Vater als Vierzehnjähriger nach Hamburg und zog nach Abschluß der Lehre weiter nordwärts, nach Dänemark, wo er sieben Jahre blieb.

Dänemark war zu jener Zeit ein wichtiger Nahrungsmittellieferant Westeuropas. Dänische Butter und dänische Eier hatten einen guten Ruf, dänischer Bacon (magerer Speck) durfte beim traditionellen englischen Frühstück nicht fehlen. Kein Wunder also, daß mein Vater im Lebensmittelhandel landete, und zwar beim Eierexport. Doch waren die Chancen, sich selbständig zu machen und gegen die altrenommierten einheimischen Firmen durchzusetzen, für ihn, einen jungen Ausländer mit wenig Kapital, in Dänemark gleich Null. So entschloß sich mein Vater Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu dem Wagnis, nach Rußland zu gehen und von dort aus den Eierexport zu organisieren.

Als Wohnsitz wählte er die Stadt Woronesh, Zentrum eines an die Ukraine grenzenden Gouvernements mit einer relativ entwickelten agrarischen Produktion. Da er als Kind Polnisch gelernt hatte, konnte er sich einigermaßen verständigen. Das erforderliche Anfangskapital war nicht allzu hoch: Benötigt wurden ein Lagerschuppen, zwei Dutzend Arbeiter und je hundert Rubel Vorschuß für die einheimischen Aufkäufer, die von Dorf zu Dorf fuhren und bei den Bauern Eier aufkauften. Die Eier wurden durchleuchtet, sortiert, in Kisten gepackt und so schnell wie möglich auf den Weg nach Deutschland gebracht, wo zwei Brüder meines Vaters sie abzusetzen suchten; daher hieß die Firma Gebrüder Nebenzahl. 
(...)

Vom Eierimport zur Filmproduktion

Mitinhaber der Firma Gebrüder Nebenzahl war mein Onkel Heinrich in Berlin. Auch er wurde vom Ausbruch des ersten Weltkrieges in Mitleidenschaft gezogen: Die Eierlieferungen aus Rußland blieben aus. Er stellte sich aber sehr rasch und risikofreudig auf die Filmproduktion um und hatte insofern Glück, als er für seine Filme Harry Piel gewinnen konnte, einen Sensationsdarsteller, der sich in den zwanziger Jahren einer ständig wachsenden Beliebtheit erfreute. Insgesamt produzierte mein Onkel über siebzig Harry-Piel-Filme, ehe diese Partnerschaft gelöst wurde.

Ende der zwanziger Jahre befaßte sich die Firma meines Onkels vor allem mit einer Art "Sekundärverwertung" der alten Erfolgsstreifen: Zwei bis drei davon wurden zu einem "neuen" Film montiert, der unter einem neuen Titel, ohne eine Premiere, zu günstigen Bedingungen an kleine Kinos verliehen wurde und immer noch Zuschauer anlockte. Spezialist für derartige "Ausaltmachneu"-Operationen war in Berlin zu jener Zeit ein gewisser Dr. Nossek, im Hauptberuf Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Doch eines Tages sprach bei Onkel Heinrich ein Verwandter, Robert Siodmak aus Dresden, vor und bat ihn inständig um Arbeit.

Dazu eine Erläuterung: Die Mutter meines Vaters, Lea, war eine geborene Siodmak. Ihr Verwandtschaftsverhältnis zu den Siodmaks aus Dresden ist mir nicht bekannt, doch redeten diese meinen Vater und dessen Brüder mit Onkel an. Frühe künstlerische Ambitionen hatten Kurt und Robert Siodmak aus dem Hause und an Provinzbühnen getrieben, wo sie aber keine Lorbeeren ernteten. So kam Robert eines Tages mittellos nach Berlin und erhoffte hier von seinem Onkel, dem Filmproduzenten, Hilfe. Dieser konnte ihm aber nichts anderes anbieten als drei alte Harry-Piel-Filme zur "Neuaufbereitung". Robert zog sich in den Schnittraum zurück, kam am übernächsten Tag wieder heraus und sagte: "Ich bin fertig!" - "Das kann doch nicht sein!" meinte mein Onkel. "Dr. Nossek braucht dazu mindestens drei Wochen!" Doch war dem Anfänger die "Erneuerung" glänzend gelungen.
Daraufhin erhielt Robert die Chance, bei der nächsten Neuproduktion meines Onkels (DAS LETZTE FORT) dem später sehr bekannt gewordenen Schweizer Filmregisseur Lindtberg [Regie führte Kurt Bernhardt; CG] zu assistieren. Ich selbst - damals noch Student - durfte bei diesem Film drei Tage als Komparse mitwirken und lernte bei dieser Gelegenheit meinen Vetter Robert überhaupt erst kennen. (...)

Onkel Heinrich war mit einer Amerikanerin verheiratet und hatte zwei Söhne: Leon (wie ich nach dem Großvater benannt) und Seymour. Dieser trat in die Fußstapfen des Vaters und machte innerhalb weniger Jahre eine erstaunliche Karriere. Mit der Gründung der Produktionsgesellschaft Nero-Film und der Verleihfirma Star-Film (später Vereinigte Star-Film) wurde er einer der größten selbständigen Filmproduzenten Deutschlands.
Ich hatte mit seiner Produktion insofern etwas zu tun, als die Werbeabteilung der Star-Film-Gesellschaft mir Anfang der dreißiger Jahre, da ich bereits als Grafiker tätig war, gelegentlich Aufträge erteilte. (...)


Aus: Leon Nebenzahl: Mein Leben 
begann von neuem. Erinnerungen an eine 
ungewöhnliche Zeit. Berlin/DDR: Dietz 1985


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