Als die Bilder singen lernten. Materialien zum 11. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 5. - 8. November 1998.

Tonfilm-Musik als neue musikalische Form

von Werner Richard Heymann

in: Film und Ton (Wochenbeilage der Licht-Bildbühne), Nr. 31, 1.8.1931.


Für die eindeutige, sachliche Stellungnahme zu diesem Thema muß von vornherein ein glatter Trennungsstrich gezogen werden zwischen den filmischen Bildfolgen mit gelegentlichen Gesangseinlagen sowie musikalischer Untermalung und der filmischen Darstellung, zu der die Musik und der Gesang in einem homogenen Verhältnis stehen.

Bei der ersten dieser beiden Kategorien, die eigentlich als Tonfilm-Surrogat angesprochen werden kann, spielen Musik und Gesang die gleiche passive Rolle, wie die musikalische Illustration bei den früheren stummen Filmen; mit dem einzigen Unterschied, daß der akustische Teil dabei einfach mechanisiert ist.

Diese Kategorie kann daher dem Film-Komponisten nur einen recht geringen Reiz bieten. Ganz zu schweigen von dem an sich schon stilwidrigen Versuch, musikalische Bühnenwerke vergewaltigen und auf die Filmleinwand bannen zu wollen.

Die zweite Kategorie hingegen, bei der die Musik, als primäres Element, aktiv in die Handlung eingreift und immer weiter anregend und belebend wirkt, eröffnet der Phantasie des Tonkünstlers ein weites Feld schöpferischer Betätigung, die in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur eben zu der neuen musikalischen Form des Tonfilms führt. Diese neue Form ergibt sich folgerichtig schon aus den eigenen Gesetzen der filmischen Darstellungskunst selbst, falls im Tonfilm die Musik und der Gesang zum organischen Aufbau der Handlung beitragen, oder besser, denselben fördern und die Stimmung der einzelnen Situationen besonders hervortreten lassen.

Während meiner bisherigen Tonfilmarbeit konnte ich in der Praxis eine steigende Bestätigung meiner Ansichten über die Schaffung einer eigenen, musikalischen Form des Tonfilms feststellen. Bei jeder neuen Aufgabe, die ich übernahm, erwies sich die Anwendung der bei meiner ersten Tonfilm-Operette »Liebeswalzer« erprobten Methode als äußerst befruchtend und entwicklungsfähig. Von LIEBESWALZER zu DREI VON DER TANKSTELLE und zu IHRE HOHEIT BEFIEHLT war die Form der Filmoperette immer klarer umrissen, immer selbständiger geworden. Die heikle Frage der Chöre, zum Beispiel, die im Film aus der starren, passiven Haltung der Bühnen-Operette herausgerissen werden müßten, um als treibende Faktoren für die Fortentwicklung der Handlung zu dienen, schien bereits im ersten Werk glücklich gelöst zu sein. Man erinnere sich an den Chor der Gäste, die summend den Thronsaal des Lauenburger Schlosses verlassen, und damit die sich in der Tonfilm-Operette abspielende Liebesintrige stark unterstreicht. Oder an den Lach-Chor in dem Moment, wo der Held der Handlung an seiner Aufgabe zu scheitern droht und von dem fernen Klingen dieses sogar unsichtbaren Chors zur Entscheidung getrieben wird. In IHRE HOHEIT BEFIEHLT ist der Chor noch selbständiger geworden.

Die gleichen Richtlinien, die mir zur Schaffung einer für die Tonfilm-Operette geeigneten Form dienten, behalten natürlich ihre Geltung auch für die übrigen Gattungen der filmischen Darstellung. So für den W. Thiele-Film DER BALL und die beiden Groß-Tonfilme BOMBEN AUF MONTE CARLO und DER KONGRESS TANZT. Nur die absolute Verschiedenheit dieser beiden Stoffe ermöglichte mir die gleichzeitige Arbeit an beiden. BOMBEN AUF MONTE CARLO, ein musikalisches Tonfilm-Abenteuer, hat in musikalischer Hinsicht alle Vorzüge der Tonfilm-Operette beibehalten, ohne die Vergewaltigung der Logik, die die eigentliche Stilisierung der Operette erheischt. DER KONGRESS TANZT, eine historische Komödie aus der Zeit des Wiener Kongresses, erfordert eine zarte Charakterisierung der Zeitepoche, unter Verwendung von Altwiener Kompositionen und Motiven nach den obigen Prinzipien.

Nach diesen Ausführungen über die neue musikalische Form für den Tonfilm könnte die Frage auftauchen, ob im Tonfilm, mit Rücksicht auf das tyrannische Mikrophon, auch bezüglich der Instrumentation besondere Grundsätze zu befolgen seien. Nach meiner nunmehr recht reichen Erfahrung vermag jede gute, plastische und klare Instrumentation von der Tonkamera einwandfrei aufgenommen zu werden.


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