Tonfilmkrieg / Tonfilmfrieden. Materialien zum 15. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 20. - 24. November 2002.

"Eine klassische Zeit des 
deutschen Nationalfilms"


Landstreicher im Himmel
Gespräch mit Hans H. Zerlett 
über den Film ROBERT UND BERTRAM


"Herr Zerlett bittet Sie, ins Atelier zu kommen."
Ich gehe mit meinem Führer durch die Gänge des Jofa-Ateliers, steige über Schläuche und Latten, und endlich, als wir an der Tür der großen Halle sind, ertönt das Abläutezeichen zur Aufnahme. Gerade noch können wir durch die Tür schlüpfen. Aber dann bleiben wir wie angewurzelt stehen, denn vor uns ergießt sich ein Platzregen, ein Wolkenbruch mit solcher Vehemenz, daß man sich vorkommt wie zur Regenzeit in irgendeiner tropischen Steppe. Aus drei großen Regenmaschinen an der Decke der Halle ergießen sich die schäumenden Fluten, und mitten hindurch schlüpfen einige Männlein und Weiblein im Biedermeierkostüm, werden pudelnaß und schütteln sich wie junge Hunde.
"Aus! Danke!" ruft der Regisseur. "Der Regen war am besten."
Lachend reichen wir uns unter den noch leise tropfenden Regenrinnen die Hand, und dann führt mich Zerlett in seine kleine Garderobe, deren Wände ganz mit Kostümzeichnungen von Professor Scheurich behangen sind, der die Kostümentwürfe für den Tobis-Film ROBERT UND BERTRAM gemacht hat.
Um gleich auf den Kern der Sache einzugehen, frage ich Zerlett, ob er sich bei seinem Film, dessen Drehbuch er selbst geschrieben hat, ganz an die alte Posse Gustav Räders halten wolle.
Zerlett: "Ja und nein. Ich verwende Teile daraus sogar wörtlich, denn ich sehe nicht ein, weshalb man Sachen, die gut sind und in ihrer Urform bereits filmgeeignet waren, für den Film noch einmal ändern sollte. Andrerseits aber möchte ich ganz etwas Neues machen. Es hat ja bisher eigentlich eine Filmposse noch nicht gegeben. Es gab Operetten, Grotesken, Lustspiele - aber keine Possen im Film. Unter einer Filmposse verstehe ich aber etwas, bei dem nicht nur die Menschen sich possierlich benehmen, sondern bei dem die Kamera die Possen mitmacht. Räders Posse gibt ja gleich zu Anfang, wenn der Querschnitt durch das Gefängnis gezeigt wird, herrliche Gelegenheit zu Kameraspäßen."
Die Handlung aber haben Sie in ihren Grundzügen von Räder übernommen?
Zerlett: "Eigentlich nein. Räder gibt ja keine durchgeführte Handlung, sondern eine Aneinanderreihung lustiger Episoden aus dem Leben zweier Vagabunden. Jeder Akt steht so gut für sich und hat zu den anderen keine Beziehung. Ich habe zwar einen Teil der Episoden übernommen, aber die Handlung eigentlich ganz neu hineingebracht. Der Film heißt bei mir ROBERT UND BERTRAM, DIE GESCHICHTE ZWEIER VAGABUNDEN, DIE IN DEN HIMMEL KAMEN, WEIL SIE DIE MENSCHLICHSTE ALLER TUGENDEN BESASSEN: DIE DANKBARKEIT.
Und dann zeige ich in meinen Film, wie die beiden armseligen Lumpen einem Mädchen helfen, das ihnen zu essen gab. Um die hübsche Rosl von einem lästigen jüdischen Liebhaber zu befreien, inszenieren Robert und Bertram den Diebstahl bei dem reichen jüdischen Schieber Ipplmeier. Diese Ipplmeier-Szene hat schon bei Räder eine stark antisemitische Tendenz; sie steht auch in meinem Film im Mittelpunkt. Es ist selbstverständlich, daß die sechs jüdischen Rollen, die vorkommen, mit Nichtjuden besetzt werden mußten, aber die Masken - wenigstens nach den Probeaufnahmen zu urteilen - sind so echt, daß niemand an der Waschechtheit meiner Semiten zweifeln wird."
Können Sie mir noch einiges über die Besetzung sagen?
Zerlett: "Das Vagabundenpaar spielen Rudi Godden und Kurt Seifert, der Schlanke und der Dicke, die schon äußerlich sichtbar charakterisiert werden müssen. Godden ist der "Gebildete", der einst bessere Tage gesehen hat, aber verbummelte, Seifert ist der primitive, aber herzensgute Landstreicher und beide ergänzen sich in ihrem Denken und Handeln gleichsam auf ideale Weise.
Die Figur des Michel, die bei Räder ja auch da ist, habe ich völlig verändert und neben den Vagabunden in den Mittelpunkt der Handlung gestellt. Er ist zunächst der schüchterne, sich selbst nichts zutrauende Liebhaber, aber dann kommt er zu den Soldaten und wird hier zu einem ganzen Kerl erzogen. So eine Wandlung darzustellen, ist bestimmt nicht leicht, aber ich glaube, in Heinz Schorlemmer den Darsteller gefunden zu haben, der so etwas glaubhaft machen kann. Seine Braut Rosl wird Carla Rust geben. Ich habe bei diesem Film, der übrigens an Ausstattung sehr vielseitig ist, bewußt auf die Mitwirkung von ausgespochenen "Stars" verzichtet, aber wenn ich ihnen die Namen Fritz Kampers, Bruno Hübner, Robert Dorsay, Fritz Hoopts, Inge van der Straaten nenne, so sehen Sie, daß ein beachtliches Ensemble zusammengekommen ist.
Um aber auf die Handlung zurückzukommen: Bei Räder fliegen die beiden Strolche bekanntlich im letzten Akt in einem Luftballon davon, und da sie nichts als Dummheiten mit kriminellem Einschlag getan haben, siegt also eigentlich die Unmoral. Bei mir haben sie aber nun eine gute Tat getan, und deshalb können sie erlöst werden, nicht im irdischen, sondern im überirdischen Sinne. Auch in meinem Film also entfliehen sie im Ballon; die Gendarmerie will schießen, aber der Ballon fliegt höher und höher, geradewegs in den Himmel hinein. Auf diese Weise entstand ein Possenschluß mit tieferer Bedeutung, ganz abgesehen davon, daß die Kamera von Friedl Behn-Grund hier Gelegenheit zum Zaubern bekommt, wie es sich für eine echte Filmposse gehört."
In diesem Augenblick erscheint der Aufnahmeleiter und bittet Zerlett wieder ins Atelier zur nächsten Einstellung. "Heute ist der erste Aufnahmetag", meint er, "und bisher ist alles gut gegangen. Hoffentlich klappt's in den nächsten Tagen auch." - Ein Wunsch, den wir von Herzen erwidern.

Film-Kurier, Nr. 14, 17.1.1939


Emil Jannings:
"Seit langem glaube ich, daß eine klassische Zeit des deutschen Nationalfilms beginnt"
Gedanken zu meinem Film OHM KRÜGER


Menschendarstellung heißt Sinngebung des Einmaligen und des Geschichtlichen im Schicksalhaften und Ewigen. Der Schauspieler, der sich die Aufgabe stellt, eine geschichtliche Persönlichkeit zu neuem Leben zu bringen, muß dahin streben, im Schicksal dieses einzelnen das Unabwendbare und Gesetzmäßige so zu erfassen, daß die eigene Zeit den Sinn des Vergangenen begreift.
Ich verfilmte OHM KRÜGER, den legendären Führer der Buren, nicht etwa deshalb, weil er für die Alten unter uns eine bekannte Persönlichkeit war, deren Leben bunt, abwechslungsreich und spannend dargestellt werden kann - ich verfilmte ihn, weil er dazu auserkoren war, einen Kampf zu beginnen, der in unseren Tagen vollendet wird!
Demgemäß handelt es sich bei meiner neuen Aufgabe, in der Hans Steinhoff Regie führte, nicht um eine filmische Biographie, nicht um einen interessanten Bilderbogen aus dem Leben einer großartigen Gestalt, sondern es handelt sich darum, scheinbar Zufälliges im Leben dieses Mannes in seiner historischen Zwangsläufigkeit von unserem heutigen Blickpunkt her verständlich zu machen. Denn durch Paul Krüger, den einfachen, bäuerischen Menschen aus der Einsamkeit Südafrikas, entstand in der Welt das Bewußtsein dafür, daß nationale Freiheit, Wohlstand und Glück bedroht werden von einem tückischen Leiden im Kulturorganismus: von der Methodik englischer Machtentfaltung. Dieses Bewußtsein konnte nur entstehen und wachsen durch Leben und Taten einer Persönlichkeit, für welche die Politik nicht ein Beruf, sondern eine Berufung war.

Für jedes Volk hat die Weltgeschichte eine Aufgabe

Für Paul Krüger war der Entschluß, sein kleines Volk gegen das mächtige England in den Kampf zu führen, nicht das errechnete Ergebnis aller Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, sondern die Erkenntnis eines unabwendbaren Schicksals. In einer großen Auseinandersetzung mit Cecil Rhodes, dem ebenso fanatischen wie gescheiten englischen Imperialisten, sagt Krüger in meinem kommenden Tobis-Film, der am 4. April in Berlin uraufgeführt wird, "Für jedes Volk hat die Weltgeschichte eine Aufgabe - vielleicht ist uns Buren die Aufgabe zugedacht, nur ein Beispiel zu geben." In der schwersten Stunde seines Lebens hat sich Paul Krüger emporgerissen zu der Idee, daß sich kein einzelner und kein Volk der Bestimmung, sich für die Zukunft opfern zu müssen, entziehen kann.
Die Tragödie als eine Kunstgattung, deren Gesetze für den modernen Spielfilm ebenso zu gelten haben wie für die alte Sprechbühne, erzielt ihre Wirkungen dadurch, daß sie den Helden vom Erleben zum Erkennen führt. Je problemloser seine Lebensumstände sind, je weiter er entfernt ist von der Notwendigkeit der begrifflichen Schulung und Arbeit, desto elementarer wird für ihn der Durchbruch zur tragischen Erkenntnis sein. Deshalb ist der Paul Krüger für den Schauspieler eine der dankbarsten Rollen, welche die neuere Geschichte ihm geschrieben hat. Denn Krüger war von Haus aus ein einfacher Mensch, fast ein Analphabet bis in sein Mannesalter hinein. Auf dem großen Treck der dreißiger Jahre hatte der Knabe wohl gelernt, Löwen zu erlegen und mit Wilden zu kämpfen, aber er hatte nur selten Gelegenheit gehabt, sich im Schreiben, Lesen und Rechnen unterrichten zu lassen. Mehr als neunzig Schultage hat es während dieser ganzen Jugendzeit nicht gegeben.
Erst der reife Mann, der mit mannigfachen politischen und militärischen Führungsaufgaben betraut wird, holt mühsam nach, was ihm in der Jugend versagt blieb. Aber es erwies sich, daß die naturgewachsene Bildung dieses kraftstrotzenden, schwer in seiner germanischen Art wurzelnden Menschen ein größerer Gewinn war als das fehlende Schulwissen. Ein gutes Maß echter Bauernschlauheit, vermischt mit saftigem Mutterwitz, sowie Einfühlungsvermögen in die Psyche des anderen charakterisieren Krügers Art zu denken und zu sprechen. Es war für den Darsteller eine ebenso schöne wie schwere Aufgabe, diesen Menschen, von dem einmal ganz Europa fasziniert war, in Gebärde, Bewegung, Ton, in Freude und Schmerz und schließlich im leidvollen Erkennen seiner tragischen Bestimmung aus dem Reich der Schatten zurückzuholen, damit er wieder dasteht in seiner ganzen Lebendigkeit und uns mit einem Schicksal bekannt macht, das erst heute ganz verständlich ist.

Mit 60 Jahren die große Politik

Friedfertig regierte Paul Krüger sein kleines, aus nicht mehr als hundertsiebzigtausend Menschen bestehendes Volk. Er war in jeder Hinsicht ein bäuerlicher Patriarch, der - von vierzehn Kindern und etwa siebzig Enkeln umgeben - nicht anders lebte als der Vorsteher einer größeren Dorfgemeinde. Im Wandel arbeitsfroher Jahre, im Wechsel der Jahreszeiten und Lebensstufen, im Auf und Ab der menschlichen Schicksale seiner kleinen Welt fühlte er sich wohl und galt bei seinem Volk nicht als der hochgestellte Staatschef, sondern als der gute Ohm Krüger, auf dessen Veranda bei Kaffee und Tabak die Staatsgeschäfte besprochen wurden, bis dann der schon bald Sechzigjährige hineingerissen wurde in die große Politik, weil im Lande der Buren Gold gefunden war. Sofort machte England Herrschaftsansprüche geltend und zwang das kleine Land in sein "politisches Ränkespiel".
Auf dem spiegelblanken Parkett der europäischen Ministerien und Paläste hat der schwerblütige Bauer im Gehrock und Zylinder eine gute Figur gemacht. Denn dieser Viehzüchter aus Südafrika war auch den Winkelzügen eines Chamberlain gewachsen. Nur in einer Beziehung irrte er sich: er überschätzte die Einsicht der europäischen Regierungen. Zu spät sah er ein, daß sie nicht gewillt waren, ihn zu unterstützen. Zwar die Völker jubelten ihm zu, wenn er europäischen Boden betrat, aber in den Kabinetten speiste man ihn mit unverbindlichen Redensarten ab, wenn er in seherischer Weise davon sprach, daß Dynastien und Staaten an England einstmals sterben würden. In Deutschland, Frankreich, Holland, Belgien und selbst in Rußland ahnte der kleine Mann auf der Straße, daß mit diesem alten würdigen Bauernpräsidenten zum erstenmal ein starker Gegner Englands aufgetreten war. Zwar besaß er keine militärische oder wirtschaftliche Macht, aber er war der erste, der unbestechlich und unbeirrt das Lebensrecht seiner kleinen Nation vertrat. Eine Welle der Empörung überflutete ganz Europa, als man hörte, welche Mittel England anzuwenden wagte, um den Widerstand dieses kleinen Heldenvolkes zu brechen. Es waren dieselben Mittel, die heute gegen das deutsche Volk angewandt werden sollen.
In unseren eigenen ereignisreichen Tagen, in denen die europäische Welt eine neue Ordnung bekommt, ist jede Lebensäußerung der deutschen Nation auf das eine große Ziel der Abrechnung mit England gerichtet. Auch der Schauspieler kann hier nicht beiseite stehen, denn in solchen Zeiten gibt es keine Kunst in luftleerem Raum. Zudem ist jede echte, auf seelische Erhöhung gerichtete Kunst seit jeher zweckbedingt gewesen. Gerade der Film, als letzte und stärkste Ausdrucksform dramatischer Gestaltung, hat die Aufgabe, eine nationale Gemeinsamkeit des Erlebens und Urteilens durch seine Stoffwahl zu fördern.
Historische Begebenheiten, die geeignet sind, beispielhaft, bildend, aufklärend und aufrüttelnd zu wirken, müssen deshalb mit Begeisterung in Angriff genommen sowie mit größter Sorgfalt und Verantwortungsbewußtsein bearbeitet werden. Es gibt geschichtliche Geschehnisse und Schicksale, die zu bestimmten Zeiten jedermann in die Erinnerung zurückgerufen werden müssen, aber nicht nur durch Aufsätze, Berichte, Erzählungen, sondern durch das sinngebende Spiel. Dieses ist eine der vornehmsten Aufgaben, die Schauspieler erfüllen können.
Als sich die deutsche Sprechbühne in jenem frühen Entwicklungsstadium befand, in dem der Tonfilm heute steht, stellte ihr der junge Schiller folgende (nun wieder so zeitnahe) Aufgabe: "Nationalgeist eines Volkes nenne ich die Ähnlichkeit und Übereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber seine andere Nation anders meint und empfindet. Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Übereinstimmung in einem hohen Grade zu bewirken, weil sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert, alle Situationen des Lebens erschöpft und in alle Winkel des Herzens hinunterleuchtet, weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt und den gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen hat."
Seit langem glaube ich, daß eine klassische Zeit des deutschen Nationalfilms beginnen wird. Dann wird die Größe des dramatischen Vorwurfs entscheidend sein. Dann werden Filmwerke entstehen, die für alle Zeiten als Eigentum der Nation gelten. Das aber wird nur dadurch möglich sein, daß die dichterisch-gedankliche Grundsubstanz für das eigene Volk von zeitloser Gültigkeit ist.
Von dieser Forderung aus bin ich an die Arbeit gegangen. Paul Krügers Vorfahren sind deutscher Abstammung - sein Denken, sein Handeln und auch seine Irrtümer sind uns wesensverwandt: sein Schicksal wird uns erst heute ganz verständlich, obgleich vierzig Jahre seit dem Burenkrieg verflossen sind. Aber für das Walten der historischen Gerechtigkeit ist das eine kleine Zeitspanne. Schon ist die Stunde des Gerichts angekündigt worden.
Vor diesem Gericht erscheint als Ankläger auch Ohm Krüger, um Sühne zu fordern für die heuchlerische Vernichtung der Freiheit seines Volkes und für die sechsundzwanzigtausend Frauen und Kinder, die England in den Konzentrationslagern durch Seuchen und Hunger umkommen ließ.

Film-Kurier, Nr. 75, 29.3.1941


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